Von der Zeitenwende zum Auftrag: So steigen Mittelständler in die Defence-Lieferkette ein

Die politische Zäsur der letzten Jahre hat den europäischen Verteidigungsmarkt spürbar verändert. Deutschland stellte 2022 ein Sondervermögen von 100 Mrd. € bereit und betonte die langfristige Stärkung der Bundeswehr - ein Signal, das über Einmalanschaffungen hinaus auf mehrjährige Programme, Instandhaltung und Nachversorgung zielt. Für den industriellen Mittelstand bedeutet das: neue Nachfrage, aber nur für Anbieter, die Qualität, Nachweisbarkeit und Compliance verlässlich beherrschen. In die Lieferkette gelangt, wer bestehende Stärken - etwa Präzisionsmechanik, Sensorik, Elektronik, Software oder Schutztextilien - in verteidigungstaugliche Leistungen übersetzt und auditierbar macht.

Defence ist kein „Schnellbootmarkt“. Projekte laufen länger an, Zertifizierungen und Freigaben sind aufwendig, und der Kapitalbedarf steigt durch Werkzeuge, Prüfmittel, Vorserien und Sicherheitsanforderungen. Rechnen lohnt sich, wenn aus Pilotlosen planbare Abrufe werden - idealerweise über mehrjährige Rahmenverträge. Ein realistischer Business Case berücksichtigt daher:

  • Losgrößen & Anlauf: Welche Stückzahlen sind zu erwarten, wie staffeln sich Werkzeug- und Industrialisierungskosten?

  • Qualitätskosten: Welche Prüfprozesse, Freigaben und Dokumentationstiefen sind gefordert - und wie schlagen sie sich im Stückpreis nieder?

  • Working Capital: Wie werden längere Zahlungsziele, Sicherheitsbestände und Ersatzteilhaltung finanziert?

  • Risikoteilung: Wo sind Preisgleitklauseln auf Basis transparenter Indizes sinnvoll (z. B. Material, Energie, Wechselkurse), und wie werden Einmalkosten sauber von laufenden Kosten getrennt?

Attraktiv wird der Markt, wenn die Preislogik früh plausibel kommuniziert wird: Kostenstrukturen offenlegen, Lebenszykluskosten (inklusive Obsoleszenz- und Ersatzteilstrategie) darstellen, Servicelevel definieren - so werden Angebote vergleichbar und verhandlungsfest.

"Der Eintritt in die Defence-Lieferkette ist kein Sprint, sondern ein Audit in Bewegung: Wer Prozesse schon in der Akquise prüfbar macht, verkürzt die Zeit bis zum ersten Auftrag."

Anforderungen und Compliance: Was Käufer wirklich prüfen

1. Qualität

In Luft-/Raumfahrt und Defence hat sich die Normenfamilie EN/AS 9100 etabliert, mit klaren Vorgaben zu Konfigurations-, Änderungs- und Rückverfolgbarkeitsprozessen. Auftraggeber fordern zudem teils NATO-AQAP-Anforderungen vertraglich ein. Mittelständler punkten, wenn das eigene QMS nicht nur zertifiziert ist, sondern in Prüfplänen, FAI/PPAP-Logik, Messmittelfähigkeit und Reklamationsmanagement „lebt“.

2. Informations- & Cyberschutz

Mit der NIS2-Richtlinie setzt die EU unionsweit Mindeststandards, u. a. zu Governance, Risiko- und Vorfallmanagement, Schulung, Melderegeln und Lieferkettenkontrollen. Je nach Projekt kommen nationale Anforderungen hinzu, etwa zum Umgang mit „Verschlusssachen - nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD)“ gemäß Verschlusssachenanweisung- inklusive Kennzeichnung, Aufbewahrung, IT-Zugriffen und Vernichtung. Wer Prozesse, Rollen und Räume hierfür vor-klärt, vermeidet Verzögerungen in der Angebotsphase

3. Exportkontrolle & Sanktionen

Europaweit gilt die Dual-Use-Verordnung (EU) 2021/821. Enthalten Lösungen US-Technologie, können zusätzlich ITAR (US-State Department/DDTC) oder EAR (US-Commerce/BIS) greifen - mit Registrierungs- und Genehmigungspflichten. Diese Betroffenheit muss früh geklärt werden, um Angebote korrekt zu klassifizieren und Lieferketten rechtssicher zu gestalten.

4. Spezielle Qualifikationen

Je nach Fertigung sind branchenspezifische Nachweise Voraussetzung - etwa DIN 2303 für wehrtechnische Fügeverfahren. Solche Qualifikationen strukturieren nicht nur die Produktion, sondern senken Audit-Aufwände bei Erst- und Prozessabnahmen.

Angebot, Preise und Verhandlungen: Kalkulieren, was geprüft wird

Preisgespräche drehen sich in diesem Umfeld um mehr als den Stückpreis. Entscheider bewerten Lebenszykluskosten (LCC), Ersatzteil- und Obsoleszenzstrategien, Dokumentations- und Prüfaufwände, Servicelevel und Nachversorgungsfähigkeit. Gute Angebote trennen Einmalkosten (Werkzeuge, Qualifikationen, Erstbemusterung) klar von laufenden Kosten (Material, Fertigung, Prüfumfang) und weisen Preisgleitklauseln transparent aus. Wer Toleranzketten, Prüfpläne, Traceability und Änderungswege im Angebot sichtbar macht, reduziert Rückfragen - und signalisiert Professionalität.

Operative Vorbereitung: Von der Absichtserklärung zur Serienreife

Zwischen erster Kontaktaufnahme und Serienauftrag liegen technische Klärungen, beidseitige Due-Diligence-Prüfungen und häufig zunächst begrenzte Lieferumfänge. NDA und saubere Spezifikations-Reviews sind Pflicht.

In Verteidigungsprogrammen ändern sich Anforderungen öfter als in zivilen Serien. Wer ein robustes Änderungs- und Konfigurationsmanagement vorhält, steigert Verlässlichkeit – und damit die Chance auf Folgeaufträge.

„Mittelständler gewinnen nicht über Größe, sondern über Verlässlichkeit und Nische – und beides wird im Verteidigungsmarkt über Nachweisbarkeit definiert.“

Längere Laufzeiten und erhöhte Vorfinanzierung erfordern eine vorausschauende Liquiditäts- und Avalplanung. Sinnvoll sind erweiterte Produkthaftpflicht- und Rückrufdeckungen, klare Contract-Governance (z. B. Freigabematrix, Vier-Augen-Prinzip) und gelebte Integrity-Regeln zu Geschenken, Einladungen und Interessenkonflikten. Das ist nicht bloß Formalie: Es schützt vor Sanktionen, stabilisiert die Bankengespräche und stärkt die Verhandlungsposition gegenüber großen Auftraggebern.

Zuletzt ist ein besonderes Augenmerk auf präzises Stakeholder-Management und ein entsprechendes Narrativ zu legen. Der Markteintritt ist strategisch und kulturell bedeutsam. Geschäftsführung, Belegschaft, Betriebsrat, Banken, Eigentümer und regionale Öffentlichkeit sollten verstehen, warum das Unternehmen diesen Weg geht, wie Compliance gesichert wird und welche Leitplanken gelten (z. B. fokussierte Märkte/Produkte, klare Partnerkriterien, Menschenrechts- und Sorgfaltspflichten). Ein konsistentes Narrativ – Sicherheit als öffentliche Aufgabe, Beitrag zur Resilienz, verantwortungsvolle Lieferkette – macht Haltung sichtbar und verhindert Missverständnisse.